Montag, 24. Januar 2011

Übergriffe von Wildtieren auf Menschen nehmen zu

Zoologen sprechen inzwischen von einem ernsten Problem: Die Übergriffe von wilden Tieren sind so häufig, so aggressiv und so gefährlich wie nie. Bären, Elefanten, Tiger, Löwen, Wölfe, Haie, vor allem aber Krokodile – viele Tiere reagieren nicht mehr artgerecht. Der Mensch unterschätzt Stress, Intelligenz und Gedächtnis der Kreaturen.

Bildquelle: http://data14.sevenload.com/slcom/rn/wb/mfffjkc/ugkfoponmmjd.jpg~/Killer-Katze-aus-Krefeld.jpg

Es gibt absolut nichts, was die zwei Kinder dazu bringen könnte, jemals wieder in einem Haus zu schlafen. Schon gar nicht im Haus ihrer Eltern, in einem Dorf in Buschmannland, Namibia. Heute Nacht werden sie auf dem Baum bleiben, ebenso wie morgen Nacht, übermorgen und wie jede Nacht vom Rest ihres Lebens. Die Mutter schimpft, fleht, droht, bettelt. Es hilft nicht. Nicht nach dem, was passierte. Nicht nach jener Nacht, als die Elefanten aus dem Wald gekommen sind – und den Vater mitgenommen haben. Die Kinder hören noch das Poltern, sehen noch immer den dunklen Koloss, der plötzlich im Türrahmen auftaucht. Der Vater will ihn verscheuchen. Das ist der Moment, als der Elefant zugreift, ihn in den Wald trägt und ihn tötet. So erzählen Mutter und Kinder es der englischen Zeitung „Daily Telegraph“.

Elefanten waren nicht immer so. Aber seit einigen Jahren hat sich in ihrer Beziehung zum Menschen etwas Grundlegendes geändert. Nicht nur bei ihnen – die Übergriffe von wilden Tieren sind so häufig, so aggressiv und so gefährlich wie nie. Der gutherzige Dickhäuter, der Jumbo heißt, der nette Bär namens Pu und jetzt dazu der weiße Kuschelbär mit Vornamen Knut – lange schien es so, als seien die gefährlichsten Vertreter der Zoologie kurz vor dem Übergang ins Paradies, in dem keine Kreatur der anderen das kleinste Haar krümmt. Den vermenschlichten Kinderzimmer-Spielzeugtier-Perspektiven setzen Zoologen jetzt ein paar erschreckende Erkenntnisse der freien Wildbahn entgegen.


„Die Vorfälle, in denen Mensch und Tier aneinandergeraten, nehmen seit etwa zehn Jahren zu“, sagt die kalifornische Wissenschaftlerin Gay Bradshaw. Die Forscherin setzt sich vor allem mit dem Anstieg der Gewalttaten zwischen Elefanten und Menschen auseinander. Sie hat in einer der früheren Ausgaben von „Nature“ den Artikel „Elephant Breakdown“ veröffentlicht, auf Deutsch: der Zusammenbruch der Elefanten. „Die Tiere reagieren nicht mehr artgerecht“, sagt sie, „Elefanten sind Vegetarier, sie haben keinen Grund, Menschen zu töten.“ Bradshaws Theorie: Der Mensch hat durch Jagd, Keulung und den Raub des Lebensraums die Sozialstruktur der Dickhäuter zerstört, jetzt rächt sich das: „Die Tiere haben verstanden, dass sie nur einen Feind haben – den Menschen."


Aber nicht nur Elefanten reagieren zunehmend aggressiv auf Menschen: Behörden in den USA und Kanada registrieren besorgt deutlich mehr Angriffe von Berglöwen, Füchsen, Wölfen auf Menschen. Rumänien und Kolumbien zählen mehr Übergriffe durch Bären. Aus Sierra Leone und Uganda kommen Berichte von Schimpansen, die Menschen schwer verletzten und töten – und das, obwohl unsere nächsten biologischen Verwandten „so gut wie nie Personen angreifen“, wie der „New Scientist“ schreibt. Und die „Los Angeles Times“ berichtet, dass es weltweit seit dem Jahr 2000 doppelt so viele tödliche Hai-Attacken gab wie in den letzten 50 Jahren des 20. Jahrhunderts. Einen ähnlichen Trend beobachtet der Australier Scoresby Shepherd. Der Biologe machte darauf aufmerksam, dass Gegenden, die für drei bis vier Hai-Angriffe in zehn Jahren bekannt sind, inzwischen mindestens einmal im Jahr heimgesucht werden.

Natürlich wissen die Zoologen, dass es sich hierbei, statistisch gesehen, um Einzelfälle handelt – für die es jeweils verschiedene Gründe gibt. In der Wissenschaft gibt es keine Kategorie, in der alle Tiere, die Menschen töten, zusammengefasst sind. Im zoologischen Ordnungssystem verbindet den Eisbären nichts mit dem Krokodil, den Elefanten nichts mit dem Tiger, die Netzpython nichts mit dem weißen Hai. Dennoch nehmen Wissenschaftler die Übergriffe inzwischen so ernst, dass sie eine eigene statistische Kategorie eingeführt haben: HAC – Human-Animal Conflict.
Anzeige


Die meisten Berichte über tödliche Übergriffe aus der Tierwelt beginnen so: Das Soundso frisst keine Menschen. Wenn es trotzdem einen frisst, dann aus Versehen. Ein unglücklicher Zufall, der dem Grizzly auf dem Weg zur Mülltonne den verschlafenen Camper in die Quere schickt, der den Surfer in den Augen des Hais wie eine Robbe aussehen lässt oder den gebückten Bauern wie ein hilfloses Huftier in den Augen des Tigers.

Tiere wissen genau, mit wem sie es zu tun haben

Der renommierte Ethnologe Marc Bekoff, University of Colorado, behauptet das nicht. „Über Jahrhunderte haben wir geglaubt, Tiere sind nicht viel mehr als gefühlsarme, unreflektierende und instinktgesteuerte Automaten“, sagt Bekoff, „diese Ansicht ist dumm, gefährlich, und damit machen wir es uns zu leicht. Je länger wir uns mit Tieren beschäftigen, egal welcher Species sie angehören, desto erstaunter stehen wir da. Sie handeln emotional und haben ein gutes Gedächtnis, egal ob es um Artgenossen, Feinde, Beute, Verletzungen oder einfach nur Stress geht.“

Bekoff beobachtet seit 30 Jahren Kojoten, Füchse, Krähen und Elefanten. Der Mensch als Krone der Evolution, als Spitze der Nahrungskette – dieses Bild ist für Bekoff ein Überbleibsel aus Darwins Zeiten, das sich längst überholt hat.

„Wenn unser Gehirn über Jahrmillionen hinweg ein reiches, emotionales Gefühlsleben hervorgebracht hat, warum dann nicht auch das von Tieren?“ Laut Bekoff sollten Wissenschaftler nicht länger darüber diskutieren, ob Tiere Gefühle haben, sondern darüber, wie und was sie fühlen. „Ergebnisse von Laborforschern zeigen: Von der Neurobiologie her ähneln die Gefühlsregungen denen der Menschen. Sie entstehen in den gleichen Hirnbereichen, und oft gehen sie mit fast identischen Hormonausschüttungen einher.“

Dass viele Tiere uns in den Disziplinen Intelligenz, Gedächtnis und emotionale Regungen etwas vorturnen können, ist für Zoologen nichts Neues. Britische Neurologen fanden heraus, dass Schafe zum Beispiel ein hervorragendes Gedächtnis für Gesichter haben. So können sie schon als Lamm mindestens 50 Antlitze von Artgenossen speichern – und sie in der Herde wiederfinden, sogar, wenn sie über Jahre hinweg getrennt lebten. John Webster, Professor für Landwirtschaft an der Universität Bristol, fand heraus, dass die Tiere im Laufe ihres Lebens vier bis fünf beste Freunde haben – ebenso wie Feinde, denen gegenüber sie zornig und abweisend reagieren. Ein Verhalten, das jeder Bauer auch von seinen Kühen oder Pferden kennt.

Verhalten wird falsch interpretiert

Dennoch gibt es viele Forscher, wie zum Beispiel Paul McDonald, die davor warnen, unsere nahen und entfernteren zoologischen Verwandten allzu sehr zu vermenschlichen: „Wir neigen sehr schnell dazu, tierische Verhaltensmuster völlig falsch zu interpretieren. Ein starker Antrieb vieler Kreaturen ist die Rangordnung. Missachtet ein Mensch diese, reagieren viele Tiere aggressiv.“

Auch an den menschenfressenden Räubern im Tierreich gibt es wenig zu romantisieren. In seinem Buch „Das Lächeln des Tigers“ fasst der Wissenschaftsjournalist David Quammen die großen Raubtiere wie Tiger, Löwe, Hai und Krokodil als Alpha- und Gipfelräuber zusammen. Alpha, weil diese Kreaturen groß und gefräßig sind – und wir Menschen eben schon lange vergessen haben, dass wir im letzten Millennium kaum mehr waren als „eine andere und leicht erhältliche Sorte Fleisch“. Gipfel, weil die großen Räuber immer noch an der Spitze der Nahrungspyramide stehen. Gerade weil sie auf der Spitze stehen, brauchen sie ein gewaltiges Revier, um Beute zu beschaffen – und sie reagieren empfindlich auf Raumverlust.

Am erfolgreichsten sichert sich derzeit das Krokodil seine Reviere – und fordert auch die meisten Todesopfer, das recherchierte der BBC-Journalist Steve Leonard. Vor allem das australische Leistenkrokodil tut sich in der Statistik hervor. Handelsverbote retteten das Reptil, dem es bis 1973 gewaltig ans Leder ging. In Australien war es durch die Jagd nahezu ausgerottet.

Mittlerweile hat sich der Bestand erholt, es gibt so viele Tiere wie lange nicht mehr. Dazu helfen Zuchtprogramme: In australischen Krokodilfarmen werden die Eier heute künstlich bebrütet und ein Teil der Jungtiere dann in die Wildnis entlassen. Die Art gilt weiterhin als streng geschützt – obwohl ihr mehr und mehr Touristen in den Rachen fallen. „Einige Leute sagen vielleicht, ach Krokodile, die sind doch nicht so schlimm. Aber sie sind schlimm“, schreibt Quammen. Dazu zitiert er Hiob: „Kannst du das Krokodil am Angelhaken ziehen? Fleht es dich groß um Gnade an? Richtet es zärtliche Worte an dich?“ Die Antwort ist: nein.

Quelle: http://www.welt.de/wissenschaft/tierwelt/article2378351/Uebergriffe-von-Wildtieren-auf-Menschen-nehmen-zu.html

Siehe auch: http://moreaus-insel.blogspot.com/2010/01/konferenz-der-tiere.html

Keine Kommentare: