Als Erdstall wird im nordöstlichen Alpenvorland ein im Mittelalter von Menschenhand geschaffenes unterirdisches, nicht ausgemauertes Gangsystem bezeichnet. „Erdstall“ bedeutet eine „Stätte unter der Erde“ oder einen „Erd-Stollen“ und hat mit einem Gebäude zur separaten Unterbringung der Haustiere (Viehstall) nichts gemein.
Benennung
Der Volksmund nennt die Anlagen „unterirdische Gänge“ oder einfach „Geheimgänge“. Vor allem in Bayern ist die Bezeichnung „Schrazelloch“ verbreitet, da sie dem Volksglauben nach von Zwergen (Schranzen, Schrazel) gegraben wurden.
Beschreibung
Die Gänge sind meist winkelig angeordnet, bis zu 60 cm breit und nur 1,0 bis 1,4 m hoch. In vielen Erdställen gibt es auch sogenannte Lampennischen sowie zumeist endständige kammerartige Erweiterungen und Sitznischen. Engstellen, die nur kriechend passiert werden können, werden als "Schlupf" bezeichnet.
Erscheinungsformen
Zur Systematisierung wurde von Erdstallforschern eine grobe Kategorisierung der am häufigsten vorkommenden Bauformen vorgenommen.
* Typ A
Der Typ (A) besitzt einen längeren Hauptgang mit Durchschlupfen und Seitengängen.
* Typ B
Der Typ (B) geht über mehrere Etagen, die durch vertikale Schlupfe miteinander verbunden sind. Auch ein mit einer Trockenmauer verschlossener Bauhilfsschacht ist anzutreffen. Am Ende des Ganges gibt es Sitznischen oder eine Raumerweiterung mit einer Sitzbank.
* Typ C
Der Typ (C) besitzt meist horizontale Schlupfe und am Ende oder mittendrin einen Rundgang, in dessen Bereich der Gang eine aufrechte Begehung zulässt.
* Typ D
Der Typ (D) weist Kammern auf, die durch Gänge miteinander verbunden sind. Die Engstellen dazwischen sind überwiegend horizontal angelegt.
Verbreitung
Waagerechter Schlupf
Erdställe gibt es in Bayern (über 700), Oberösterreich, Niederösterreich und vereinzelt in der Steiermark und im Burgenland. Ähnliche Anlagen kennt man auch in Sachsen-Anhalt, Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn. Die geographische Verbreitung der Erdställe hängt u. a. mit geologischen Bedingungen zusammen. Der Boden muss ausreichend fest und gut bearbeitbar sein. Entsprechende Bedingungen bietet etwa der Löss, Schlier, Lehm, Sandstein oder der sogenannte Flins (verwitterter Granit). In massivem Fels oder losem Schotter kommen Erdställe nicht vor. Unterirdische Objekte in vergleichbarer Bauweise, aber anderer Zeitstellung und wahrscheinlich auch anderer Funktion finden sich in Großbritannien (besonders Schottland), Irland, Spanien und Frankreich, wo sie als Souterrain, Weem, Fogou oder Earthhouse bezeichnet werden.
Es gibt auch Sagen von unterirdischen Gängen, die einen Ort A mit einem mehrere Kilometer entfernten Ort B verbinden sollen. Erdställe dieser Länge gibt es jedoch nicht. Existierende Gangsysteme sind selten länger als 50 Meter. Wahrer Kern hinter derartigen Sagen ist aber oft, dass an beiden Orten ein Erdstall existiert.
Erdställe in Niederösterreich
* Nonndorf (Gemeinde Raabs an der Thaya): Sehr schöner und gut erhaltener Erdstall mit Rundgang unter einem Bauernhof.
* Kleinzwettl: Erdstall mit Rundgang unter einer Wehrkirche.
* Ruppersthal: Erdställe auf mehreren Grundstücken des Ortes.
* Herrnbaumgarten: Mehrere Häuser besitzen einen Erdstall.
* Gaweinstal: Bei einer Kellergrabung zufällig gefundener Erdstall.
* Thaya: In einem Herrenhaus der Wüstung Hard
Erdställe in Oberösterreich
* Erdstall Ratgöbluckn in Perg
Erdställe in Baden-Württemberg
* Erdstall von Rot am See
Erdställe in Bayern
* Erdstall von Zwiesel: Kann bei Führungen besichtigt werden
Zeitstellung
An den Gangenden von Erdställen finden sich oft Nischen und Sitzbänke.
Die Erdställe wurden während der Rodungs- und Besiedlungsperiode im Hochmittelalter errichtet. Sie sind etwa 800 bis 1000 Jahre alt. Anhand von Funden lässt sich bestimmen, wann die Erdställe errichtet und genutzt wurden.
Errichtung
Ein Holzkohlefund aus dem Bauhilfsschacht eines Erdstalls in Bad Zell (Oberösterreich) wurde mittels Radiokohlenstoffdatierung in die Zeit zwischen 1030 und 1210 datiert. Da Bauhilfsschächte nur für die Errichtung eines Erdstalls angelegt wurden und zugeschüttet wurden, sobald der Erdstall fertiggestellt war, kann angenommen werden, dass der Erdstall in dieser Zeit errichtet worden ist.
Nutzung
Darüber hinaus ermöglichen Funde in Erdställen eine Aussage darüber, wann die Gänge von Menschen aufgesucht wurden.
* Holzkohle aus dem Erdstall von Trebersdorf, die mittels Radiokarbonmethode datiert wurde, erbrachte ein Datum von 950 bis 1050.
* Die 14C-Datierungen von Proben aus dem Erdstall von Kühried in Bayern zeigten ein Datum von 950 bis 1160.
In einem Erdstall in Pregarten im Bezirk Freistadt fand sich an einem Gangende ein hölzerner Schemel, eine Feuerstelle und Keramik. Es handelt sich dabei um Bruchstücke von Gefäßen mit Bodenzeichen aus der Zeit um 1100. In einem Erdstall in der Gemeinde Sankt Agatha im Bezirk Grieskirchen fanden sich Keramikbruchstücke von Gefäßen des 12. Jahrhunderts.
Urkundliche Erwähnung
Die erste urkundliche Erwähnung der Bezeichnung „Erdstall“ stammt aus dem Jahr 1449. Im Urbar der Herrschaft Asparn an der Zaya ist ein Untertan namens Methl Huendl erwähnt, der für den 3 ½ Joch großen Acker „auf den erdstelln“ sechs Pfennig an die Herrschaft zu zahlen hat. Ein Untertan namens Tumeregker muss für sein 3 Joch großes Feld „auf den erdstelln“ ebenfalls sechs Pfennig an Abgabe entrichten.
Zweck
Der Zweck der Erdställe ist unklar. Es gibt zwei Thesen, die einander gegenüberstehen. Die Kultstätten-These geht davon aus, dass es sich bei Erdställen um symbolische Leergräber handelt. Solche Leergräber sollen von mittelalterlichen Siedlern am neuen Wohnort gegraben worden sein, um für die Seelen ihrer Ahnen ein neues, symbolisches Grab anzulegen, weil sie die alten Gräber zuvor an den alten Siedlungsorten zurücklassen mussten.
Dieser Vermutung steht die Zufluchtsstätten-These gegenüber. Dieser These zufolge wurden Erdställe als Verstecke angelegt, in denen gefährdete Personen etwa bei Überfällen „wie vom Erdboden verschluckt“ verschwinden konnten. Die wichtigsten Argumente, die für bzw. gegen die jeweiligen Thesen sprechen, sollen hier aufgeführt werden.
Der 2007 verstorbene Heimatforscher Anton Haschner aus Markt Indersdorf vermutete in den Erdställen einen vorübergehenden Aufenthaltsort der Seelen von Verstorbenen, an dem sie die „Wartezeit“ bis zum Jüngsten Gericht verbringen würden. Die Lebenden wollten damit vermeiden, dass die Verstorbenen Angst und Schrecken unter den Menschen verbreiten könnten. Erst mit dem Bekanntwerden der theologischen Vorstellung des Fegefeuers Ende des 11. Jahrhunderts hörten die Menschen damit auf Erställe zu errichten, da sie die Seelen nun sicher an einem jenseitigen Ort „verwahrt“ glaubten.
Argumente für die Kultstätten-These
Manche Erdställe weisen Bau-Elemente auf, die an sakrale Gebäude erinnern, wie etwa Spitzbögen, die sich in manchen Gängen und Kammern finden. Dem Bau-Element des Rundgangs am Ende mancher Erdstall-Anlagen lässt sich kein praktischer Nutzen zuschreiben.
Argumente gegen die Kultstätten-These
Der Voralpenraum, in dem die Erdställe hauptsächlich vorkommen, wurde bis zum Jahr 814 von Karl dem Großen erobert, und im Zuge dessen wurde die Bevölkerung vollständig christianisiert. Es ist daher nahezu undenkbar, dass zur Zeit der Errichtung der Erdstallanlagen in diesem Gebiet, also mehr als 200 Jahre und mehrere Generationen später, die Siedler noch immer einem heidnischen Ritus verhaftet gewesen sein sollen. Die heidnische Vorstellung von symbolischen Leergräbern für verstorbene Ahnen ergibt im Zusammenhang mit der christlichen Glaubenslehre keinen Sinn, weil diese davon ausgeht, dass die Seelen der Ahnen in den Himmel kommen.
Argumente für die Zufluchtsstätten-These
Viele Erdställe weisen Bau-Elemente auf, die nur bei einer Deutung als Zufluchtsort sinnvoll erklärt werden können, etwa Verriegelungsvorrichtungen, die ausschließlich von innen bedient werden können. Auch Nischen, Bänke und Luftlöcher in Erdställen weisen auf die Verwendung durch Menschen hin.
Die für Erdställe typischen hautengen Schlupfe bewirken einen wirksamen Schutz gegen Eindringlinge. Die engen, winkeligen Gänge zwingen Eindringlinge, sich einzeln und in kriechender Stellung fortzubewegen. Beim Durchqueren der Engstelle ist ein Eindringling in seiner Bewegungsfreiheit deutlich eingeschränkt und kann seine Hände nicht zu seiner Verteidigung verwenden. So sind Eindringlinge einem Verteidiger hilflos ausgeliefert und können sogar von einem deutlich schwächeren Gegner überwältigt werden. Die engen und leicht zu tarnenden Einstiege belegen die Geheimhaltung der Anlage.
Bei Überfällen ermöglicht der Erdstall ein rasches Verschwinden und Verstecken. Erdställe, die in direkter Verbindung mit mittelalterlichen Wehranlagen stehen und wesentlicher Bestandteil der Wehranlage sind, sprechen ebenfalls für die Zufluchtsstätten-These. Beispiele für derartige Erdstallanlagen finden sich unter dem Hausberg von Gaiselberg oder Großriedenthal (Niederösterreich), oder unter der Wehrkirche von Kleinzwettl (Niederösterreich, Bezirk Waidhofen an der Thaya). Von dieser Wehrkirche aus ist ein 52 Meter langes Gangsystem zugänglich.
Wenn auch nicht aus der Zeit ihrer Errichtung, so gibt es doch zahlreiche Belege, dass Erdställe zumindest später immer wieder als Zufluchtsanlagen genutzt wurden und dafür durchaus geeignet sind.
Dass Erdställe für einen kurzen Aufenthalt geeignet sind, ist empirisch erwiesen. Drei Personen konnten bei einem Experiment problemlos 48 Stunden in einem Erdstall überleben.
Argumente gegen die Zufluchtsstätten-These
Der Aufenthalt in Erdställen ist unbequem, in den Kammern kann ein Erwachsener meist nicht aufrecht stehen. Eingeschränkte Bewegungsfreiheit, Kälte und Feuchtigkeit stellen eine erhebliche Belastung dar.
Erdställe sind nur für einen kurzen Aufenthalt geeignet, weil die lebensnotwendige Nahrung mitgenommen werden muss. In Erdstallanlagen fehlt auch die Möglichkeiten, Fäkalien zu entsorgen. Diese können bestenfalls vergraben werden.
Kranke, alte und zu dicke Menschen oder Schwangere können die engen Schlupfe nicht passieren.
Die in Erdställen herrschende niedrige Temperatur kann wegen Sauerstoffmangels und Rauchbildung nicht durch ein Feuer erhöht werden.
Wenn Plünderer den Eingang zu einem Erdstall entdeckt haben, hätten sie die Menschen im Erdstall ausräuchern oder zuschütten können, was für die im Erdstall Eingeschlossenen den Erstickungstod zur Folge gehabt hätte.
Erdstallforschung
Als Pionier der Erdstallforschung gilt der Benediktiner-Pater Lambert Karner (Stift Göttweig). Er untersuchte von 1879 bis 1903 zahlreiche Erdställe und publizierte seine Forschungsergebnisse in dem Buch „Künstliche Höhlen aus alter Zeit“. Karner führt in seinem Werk eine Reihe von Argumenten gegen die Fluchtwegtheorie an.
Der Heimatforscher Franz Xaver Kießling beschäftigte sich speziell mit den Erdställen des Waldviertels (Nordwestliches Niederösterreich).
In Bayern setzte sich Karl Schwarzfischer ab 1950/60 ausgiebig mit Erdställen auseinander und gründete 1973 den Arbeitskreis für Erdstallforschung. Von ihm gingen durch seine Forschungen, Publikationen und einer breiten Öffentlichkeitsarbeit viele Impulse aus. Er gilt als der Wegbereiter der heute noch aktiven Erdstallforschung im deutschsprachigen Raum. Karl Schwarzfischer verstarb im September 2001. Der Arbeitskreis für Erdstallforschung in Roding (Bayern) publiziert seit 1975 in seinen Jahresheften „Der Erdstall“ aktuelle Forschungsergebnisse.
Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Erdstall
Siehe auch:
http://www.erdstall.de/
http://erdstall.heimat.eu/home.htm
http://www.br-online.de/bayern2/iq-wissenschaft-und-forschung/erdstall-gangsystem-bodendenkmal-ID1286353301517.xml
http://www.efodon.de/html/archiv/vorgeschichte/pit/erdstaelle.html
Sonntag, 2. Januar 2011
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