Die Britin Marina Luz Chapman behauptet, sie sei als Kind im Dschungel ausgesetzt und von Affen groß gezogen worden. Bis sie von Jägern an ein Bordell verkauft wurde. Doch Experten sind skeptisch.
Bildquelle und weiterer englischsprachiger Artikel: http://www.anorak.co.uk/337249/strange-but-true/marina-chapman-was-marina-luz-the-child-raised-by-monkeys.html/
Sie kletterte bis in die
höchsten Baumgipfel, fing Vögel und Kaninchen mit bloßen Händen, schlief
unter freiem Himmel und ging nie zur Schule oder zu einem Arzt. Es ist
eine wirklich wilde Kindheit, die Marina Luz Chapman aus Großbritannien
schildert: Die Frau aus der Kleinstadt Bradford wuchs angeblich im
kolumbianischen Dschungel auf – als Mitglied einer Horde von
Kapuzineräffchen.
Zeitungen haben
Chapman bereits den Namen "Tarzana" gegeben, in Anlehnung an den Roman
des Schriftstellers Edgar Rice Burroughs, der schon vielfach verfilmt
worden ist, unter anderem mit Johnny Weissmüller in der Hauptrolle.
Neben Rudyard Kiplings "Dschungelbuch" hat wohl kaum ein anderer Roman
die Vorstellung der westlichen Welt vom Leben im Urwald mehr geprägt und
das vermeintlich harmonische Zusammenleben von Mensch und Tier stärker
idealisiert.
Doch mit der
Romantik der Welt von Tarzan oder Mowgli, die von wilden Tieren (Affen
bei Tarzan, Wölfe bei Mowgli) liebevoll aufgenommen und großgezogen
wurden, hatte Chapmans Kindheit wenig gemein, wie die britische Zeitung "The Sunday Times" berichtet. Ganz im Gegenteil.
Misslungene Geiselnahme
Hungrig, durstig
und einsam – das sind die frühesten Erinnerungen Chapmans an den
Dschungel. Sie vermutet, dass sie 1950 in Bolivien geboren und als etwa
Vier- oder Fünfjährige aus ihrem Dorf entführt wurde.
"Da war plötzlich eine
schwarze Hand, die mir ein feuchtes, weißes Tuch über Mund und Nase
hielt. Als ich zu schreien versuchte, wurde die Hand härter und der
Himmel schwarz", schreibt Chapman auf der Homepage ihres Literaturagenten, der ihre Geschichte für glaubwürdig hält.
Im April 2013
soll ihre Autobiografie "The Girl With No Name" (das Mädchen ohne Namen)
zeitgleich mit einer BBC-Dokumenation erscheinen. In Deutschland kommt
das Buch vermutlich im August nächsten Jahres auf den Markt.
Aus der Zeit vor
ihrem Leben in der Wildnis erinnere sie sich nur an einen Garten, in
dem sie mit Erbsenschoten spielte, und an eine schwarze Puppe. Eine
Entführung des Mädchens wäre durchaus eine plausible Erklärung für
Chapmans abenteuerliche Kindheit. In vielen Ländern Südamerikas ist
Kidnapping weit verbreitet, um Geld zu erpressen. Dabei schrecken die
Verbrechern auch nicht vor Kindern aus weniger reichen Familien zurück.
Doch etwas muss
bei der Lösegeldübergabe schief gelaufen sein, vermutet Chapman, weshalb
sie offenbar ausgesetzt wurde. Jedenfalls will Chapman erst im
Dschungel wieder zu sich gekommen sein. Noch immer halb betäubt.
Treffen mit den Kapuzineräffchen
Die Geräusche
des Waldes seien erschreckend gewesen, erinnert sie sich weiter, die
hohe Feuchtigkeit habe ihr die Luft genommen. Hunger und Durst trieben
sie schließlich dazu, nach etwas Essbarem zu suchen. Am zweiten Tag sei
sie rund 20 neugierigen Kapuzineräffchen begegnet und ihnen gefolgt.
Die Tiere waren
wohl Chapmans Rettung, denn sie kopierte deren Verhalten: Sie aß, was
sie aßen; trank nur aus Wasserlöchern, aus denen auch die Äffchen
tranken. Dabei sei sie immer auf der Hut vor Großkatzen, giftigen
Spinnen oder Riesen-Pythons gewesen.
Irgendwann sei
es ihr sogar gelungen, mit den Kapuzineräffchen zu kommunizieren, sie
übernahm ihr Sozialverhalten, wurde Teil der Gruppe, spielte mit ihnen
und begann, auch um ihre Stellung innerhalb der Hierarchie zu kämpfen.
Nur einmal sei sie fast gestorben, berichtet ihre Tochter Vanessa James
der "Times", die ihrer Mutter beim Schreiben des Buches half: Als sie
von giftigen Beeren gegessen hatte.
Von Jägern ins Bordell verschleppt
Fünf Jahre habe
sie so mit den Kapuzineräffchen gelebt, behauptet die Britin. Dann aber
sei sie von Jägern nahe der kolumbianischen Großstadt Cucuta gefangen
genommen und verkauft worden – an ein Bordell. Der Preis für das Kind:
ein Papagei. Mit Drogen sei sie gefügig gemacht und zur Prostitution
gezwungen worden.
Nachdem ihr die
Flucht gelang, lebte sie auf der Straße – dieses Mal allerdings in
einem Beton-Dschungel, denn Cucuta gilt als eine der gesetzlosesten
Städte Südamerikas. Gewalt, Mord und Drogen gehören zum Alltag.
Chapman wurde
schließlich von einer Familie aufgenommen, in der sie als Hausmädchen
arbeitete. Damals soll sie zum ersten Mal Marina Luz als ihren Namen
angegeben haben. Als sie mit Freunden der Familie nach Großbritannien
reiste, lernte sie ihren späteren Ehemann John Chapman kennen, einen
Bakteriologen, den sie im Jahr 1977 heiratete. Die beiden bekamen zwei
Töchter, heute arbeitet Marina Chapman in einem Kindergarten.
"Ihre
Gute-Nacht-Geschichten spielten immer im Dschungel. Wir hielten das
nicht für sonderbar. Mama erzählte halt aus ihrem Leben", erzählt
Vanessa James. "Wenn wir was zu essen wollten, mussten wir Lärm
schlagen", sagte James. "Alle meine Schulfreunde liebten meine Mutter,
weil sie so ungewöhnlich war. Sie war kindlich, in vielerlei Hinsicht."
Für eine
BBC-Dokumentation reiste sie mit ihrer Mutter nach Kolumbien und
Bolivien – auch um die Eltern ihrer Mutter mithilfe von Medien zu
suchen.
Wolfskinder und Affenjungen
Fälle wie der
von Marina Chapman gelten immer als spektakulär, doch Experten bleiben
skeptisch. Der Autor P. J. Blumenthal hat für sein Buch "Kaspar Hausers
Geschwister", das im Februar 2013 in einer neu überarbeiteten Ausgabe
beim Deutschen Taschenbuch Verlag erscheinen wird, mehr als 120 Fälle
recherchiert und mit noch lebenden "Wolfs-Kindern", die in der Wildnis
auf sich allein gestellt waren, Interviews geführt.
"So eine
Geschichte wie die von Marina Luz Chapman ist sicher denkbar", sagt der
Experte der "Welt". "Es wäre aber der erste belegte Fall aus Südamerika,
von dem ich höre."
Bisher kenne er
nur die Geschichte des Jungen "Tarzanito", der im Jahr 1933 in El
Salvador von Baumfällern aufgegriffen wurde. Auch er war angeblich ein
Dschungelkind. Später allerdings stellte sich seine Geschichte als
Schwindel seiner Adoptivfamilie heraus.
Tatsächlich
gehörte der Junge zu einem Ureinwohnerstamm, der die Ausrottung durch
die Spanier überlebt hatte. Er war also mitnichten unter Affen groß
geworden.
Belegter Fall aus Uganda
Anders läge
laut Blumenthal John Ssebunyas Fall. Der Junge aus Uganda flüchtete als
etwa Dreijähriger panisch in den Dschungel. Die Gründe dafür sind
unklar, einige behaupten er habe Angst vor seinem gewalttätigen Vater
gehabt, andere sprechen von Kriegswirren. Erst mehrere Monate –
eventuell sogar ein Jahr – später wird er wiedergefunden. "John war dem
Tode nah", sagt Blumenthal über die Rückkehr des Kindes in die
Zivilisation.
Der Junge war
am ganzen Körper behaart – eine Folge der chronischen Unterernährung.
Experten glaubten damals, er habe sich von dem ernährt, was eine Gruppe
Grüner Meerkatzen von ihrer Nahrung auf den Boden fallen ließen,
hauptsächlich Früchte. "Er wurde keinesfalls von den Affen versorgt oder
umsorgt", sagt Blumenthal. Er sei vielmehr geduldet worden.
John, der heute
27 ist, habe Glück gehabt, nicht auf Affen getroffen zu sein, die ihn
jagten und fraßen, sagt Blumenthal. "Es gibt zwei Arten von Affen: die
einen vertreiben Eindringlinge, können sie sogar töten; die anderen
dulden sie."
Blumenthal
vermutet deshalb, dass Marina Luz Chapman sich ihre Zeit in der Wildnis
auch im Nachhinein idealisiert haben könnte. Eventuell eine Folge des
Traumas, das sie durch die Trennung und Entführung erlitten habe. Auch
bei dem von Chapman angegebenen Zeitraum sei er skeptisch. "Jemand, der
im Wald lebt, verliert sein Zeitgefühl. Es könnten also auch nur fünf
Monate statt fünf Jahre gewesen sein."
Dass Chapman
mit den Affen kommunizieren konnte, sei laut Blumenthal denkbar. Das
habe auch John Ssebunya vermocht – allerdings nur, weil er gelernt
hatte, die Affen zu imitieren.
"Die meisten
dieser 'Wolfskinder’-Geschichten sind erfunden. Denken Sie nur an den
Waldjungen Ray aus Berlin. Da entstammte alles aus der Fantasie."
Tatsächlich fand Blumenthal in seiner Recherche nur einen von 120 Fällen
bei dem ein Kind von einem Tier regelrecht versorgt worden ist – und
zwar nicht von einem Affen, sondern von einem Wolf.
P.S.: Die Kommentare zu diesem Artikel auf Welt.de sind auch interessant. So wird darauf hingewiesen, daß es in Südamerika keine Riesen-Pythons gibt.