Sonntag, 23. Mai 2010

Erschaffung von künstlichem Leben

WIR SIND GOTT!
Von Alan Posener 23. Mai 2010, 04:00 Uhr
Es ist eine Jahrtausendsensation.

Am Anfang war die Information. Und die Information war bei Craig Venter. Und die Information wurde Fleisch und hieß DNA. Und Venter nahm eine tote Zelle und blies DNA in die Zelle, und siehe da, die Zelle lebte und ward fruchtbar und mehrte sich. Denn Venter hatte gesagt: "Es werde Leben!" Und es ward Leben. Künstliches Leben: JCVI-syn1.0.

Am 20. Mai gab der Entzifferer des menschlichen Genoms, Craig Venter, bekannt, dass es seinem Team gelungen war, ein künstliches Genom im Labor zu bauen und in eine bakterielle Zelle zu implantieren, aus der man zuvor die eigene DNA - die Erbinformation - entnommen hatte. Daraufhin begann die Zelle, Kopien nach den Anweisungen der implantierten Fremd-DNA herzustellen: künstliche Wesen, scherzhaft "Mycoplasma laboratorium" genannt. Was bisher Gott oder den Göttern vorbehalten war, das machen nun Menschen.

"Die Fähigkeit, neue Lebensformen zu entwerfen und herzustellen, markiert einen Wendepunkt in der Geschichte unserer Spezies und unseres Planeten", meint der englisch-amerikanische Physiker und Mathematiker Freeman Dyson. Er übertreibt nicht. Denn wie sein Sohn, der Wissenschaftshistoriker George Dyson, erklärt: "Ein Code, der in einem digitalen Computer generiert wurde, repliziert sich nun selbst als Genom einer Linie lebendiger Zellen." Sprich: Am Anfang war die Information. Und die Information wurde Fleisch und lebt. In der Petrischale. Noch. Bald auch in einem Mikroorganismus in Ihrer Nachbarschaft.

1976 veröffentlichte Richard Dawkins seine radikale Neuinterpretation des Darwinismus: "Das egoistische Gen" sah alle Lebewesen, den Menschen eingeschlossen, als bloße Hüllen für die Replikatoren, die sich selbst replizierenden Gene, die uns nur als Brücken in die nächste Generation benutzen. Indem Craig Venter einen Replikator - einen DNA-Strang - geschaffen hat, der eine tote Hülle wieder zum Leben erweckt und zur Fortpflanzung zwingt, hat er Dawkins' Theorie praktisch bestätigt. Das Merkwürdige ist, dass aus diesem blinden Treiben der egoistischen Replikatoren ein Wesen entstand, das diesen Mechanismus nun für seine eigenen Zwecke in Bewegung setzt.

Die Implikationen sind gewaltig. Sie reichen vom Spielerischen bis zum Schrecklichen. Zum Spielerischen gehört das "Jurassic-Park"-Szenario. Mithilfe der Informationen über die DNA ausgestorbener Arten wie Dinosaurier oder Neandertaler könnte man deren Erbmaterial künstlich nachbauen und diese Wesen neu erschaffen. Zwar dürfte es ein Problem geben, ein heutiges Tier zu finden, in dessen Eier man ein Dinausaurier-Genom einfügen könnte. Sehr viel leichter dürfte es sein, etwa ein Mammut-Genom in ein entkerntes Elefanten-Ei einzufügen, das so entstandene Mammut-Ei zur Zellteilung zu animieren und es zum Austragen - so Venter - "in eine Elefantenkuh zu importieren". Noch leichter wäre es, einen Neandertaler zu züchten. Doch spätestens bei dieser Frankenstein-Fantasie berührt sich das Spielerische mit dem Schrecklichen.

Zum Schrecklichen gehört jene Vision, die der Computeringenieur Bill Joy im April 2000 in seinem Essay "Warum uns die Zukunft nicht braucht" skizzierte: Terroristen oder unvorsichtige Wissenschaftler könnten einen Mikroorganismus in die Welt setzen, der als "Weiße Pest" alle Abwehrmechanismen unterwandert, die der Mensch in Jahrmillionen entwickelt hat und die Menschheit so sicher auslöscht wie die von Europäern nach Südamerika eingeführte Pest die wehrlosen Ureinwohner.

Zwischen dem Spielerischen und dem Schrecklichen liegt das Reich der Wunder, und auch die hat Bill Joy geschildert: die Schaffung Zehntausender neuer Spezies - Bakterien, Pflanzen, Tiere. Die Revolutionierung der Landwirtschaft durch neue Pflanzen, die gegen Krankheiten immun sind und unter Wüstenbedingungen reiche Ernte tragen; die Revolutionierung der Medizin durch neu erschaffene Bakterien, die Arteriosklerose beseitigen oder Krebszellen angreifen; die Revolutionierung des Klimaschutzes durch Algen, die überschüssiges C02 durch Fotosynthese in Öl verwandeln, und des Umweltschutzes durch Wesen, die etwa ausgetretenes Öl fressen und in Biomasse konvertieren. Alles ist möglich.

Alles. Auch die Vision Eric Drexlers, der 1986 in seinem Buch "Engines of Creation" warnte: "Künstliche Pflanzen mit 'Blättern', die nicht effizienter sein müssten als unsere heutigen Solarzellen, könnten echte Pflanzen verdrängen und die Biosphäre mit ungenießbarer Biomasse vollstopfen. Kräftige Allesfresser-Bakterien könnten echte Bakterien verdrängen, sich wie Flugpollen verbreiten, sich rasch vermehren und in wenigen Tagen die Biosphäre in Staub verwandeln. Gefährliche Replikatoren könnten so kräftig, so klein und so vermehrungsfreudig sein, dass sie nicht aufzuhalten wären - jedenfalls wenn wir keine Vorkehrungen treffen. Es fällt uns ja schwer genug, Fruchtfliegen und Viren unter Kontrolle zu halten."

Das war 1986 Science-Fiction, wie "Jurassic Park" 1993 und noch "I Am Legend" 2007: In dem Film mutiert ein genetisch modifiziertes Anti-Krebs-Virus und tötet in kürzester Zeit fast die gesamte Menschheit. Jetzt wird aus Science-Fiction Technikfolgenabschätzung.

Im Garten Eden gab es nur eine Schlange, die zum Naschen von der verbotenen Frucht verführte. Im neuen Paradies hängt an jedem Baum eine verbotene Frucht, zischelt es überall: "Nein, ihr werdet nicht sterben. Ihr werdet sein wie Gott." Und das werden wir wohl auch, ob es uns passt oder nicht.

Die alte jüdische Legende hält hier eine Lehre bereit, wenn auch eine andere als jene, die meistens daraus gezogen wird: Mit Verboten und Kontrolle war schon damals der Neugier und der Verlockung nicht beizukommen.

Eher sollte man auf die Offenheit setzen - darauf, dass der menschliche Erfindungsgeist noch für jedes Gift ein Gegengift, auf jedes Computervirus einen Virusschutz gefunden hat. Bald wird jeder Biologiestudent seine eigene Bakterie entwerfen und mit DNA vom Online-Shop bauen können. Kontrolle ist unmöglich, Vertrauen ist besser. Gegen die Bosheit und Dummheit der wenigen hilft wohl nur die Weisheit der vielen.

Im Garten Eden gab es zwei Bäume mit verbotenen Früchten. Nachdem sie vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse gegessen hatten, wurden Adam und Eva aus dem Paradies gejagt, bevor sie vom Baum des ewigen Lebens essen und vollends wie Gott werden konnten. Es sieht fast so aus, als hätten die beiden gerade den Weg dorthin zurückgefunden.



Quelle: http://www.welt.de/die-welt/kultur/literatur/article7750885/WIR-SIND-GOTT.html

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