Donnerstag, 25. Oktober 2012

Entführtes Mädchen wuchs in Horde Äffchen auf



Die Britin Marina Luz Chapman behauptet, sie sei als Kind im Dschungel ausgesetzt und von Affen groß gezogen worden. Bis sie von Jägern an ein Bordell verkauft wurde. Doch Experten sind skeptisch.

Bildquelle und weiterer englischsprachiger Artikel: http://www.anorak.co.uk/337249/strange-but-true/marina-chapman-was-marina-luz-the-child-raised-by-monkeys.html/


Sie kletterte bis in die höchsten Baumgipfel, fing Vögel und Kaninchen mit bloßen Händen, schlief unter freiem Himmel und ging nie zur Schule oder zu einem Arzt. Es ist eine wirklich wilde Kindheit, die Marina Luz Chapman aus Großbritannien schildert: Die Frau aus der Kleinstadt Bradford wuchs angeblich im kolumbianischen Dschungel auf – als Mitglied einer Horde von Kapuzineräffchen.
Zeitungen haben Chapman bereits den Namen "Tarzana" gegeben, in Anlehnung an den Roman des Schriftstellers Edgar Rice Burroughs, der schon vielfach verfilmt worden ist, unter anderem mit Johnny Weissmüller in der Hauptrolle. Neben Rudyard Kiplings "Dschungelbuch" hat wohl kaum ein anderer Roman die Vorstellung der westlichen Welt vom Leben im Urwald mehr geprägt und das vermeintlich harmonische Zusammenleben von Mensch und Tier stärker idealisiert.
Doch mit der Romantik der Welt von Tarzan oder Mowgli, die von wilden Tieren (Affen bei Tarzan, Wölfe bei Mowgli) liebevoll aufgenommen und großgezogen wurden, hatte Chapmans Kindheit wenig gemein, wie die britische Zeitung "The Sunday Times" berichtet. Ganz im Gegenteil.

Misslungene Geiselnahme


Hungrig, durstig und einsam – das sind die frühesten Erinnerungen Chapmans an den Dschungel. Sie vermutet, dass sie 1950 in Bolivien geboren und als etwa Vier- oder Fünfjährige aus ihrem Dorf entführt wurde.

"Da war plötzlich eine schwarze Hand, die mir ein feuchtes, weißes Tuch über Mund und Nase hielt. Als ich zu schreien versuchte, wurde die Hand härter und der Himmel schwarz", schreibt Chapman auf der Homepage ihres Literaturagenten, der ihre Geschichte für glaubwürdig hält.

Im April 2013 soll ihre Autobiografie "The Girl With No Name" (das Mädchen ohne Namen) zeitgleich mit einer BBC-Dokumenation erscheinen. In Deutschland kommt das Buch vermutlich im August nächsten Jahres auf den Markt.

Aus der Zeit vor ihrem Leben in der Wildnis erinnere sie sich nur an einen Garten, in dem sie mit Erbsenschoten spielte, und an eine schwarze Puppe. Eine Entführung des Mädchens wäre durchaus eine plausible Erklärung für Chapmans abenteuerliche Kindheit. In vielen Ländern Südamerikas ist Kidnapping weit verbreitet, um Geld zu erpressen. Dabei schrecken die Verbrechern auch nicht vor Kindern aus weniger reichen Familien zurück.

Doch etwas muss bei der Lösegeldübergabe schief gelaufen sein, vermutet Chapman, weshalb sie offenbar ausgesetzt wurde. Jedenfalls will Chapman erst im Dschungel wieder zu sich gekommen sein. Noch immer halb betäubt.

Treffen mit den Kapuzineräffchen


Die Geräusche des Waldes seien erschreckend gewesen, erinnert sie sich weiter, die hohe Feuchtigkeit habe ihr die Luft genommen. Hunger und Durst trieben sie schließlich dazu, nach etwas Essbarem zu suchen. Am zweiten Tag sei sie rund 20 neugierigen Kapuzineräffchen begegnet und ihnen gefolgt.
Die Tiere waren wohl Chapmans Rettung, denn sie kopierte deren Verhalten: Sie aß, was sie aßen; trank nur aus Wasserlöchern, aus denen auch die Äffchen tranken. Dabei sei sie immer auf der Hut vor Großkatzen, giftigen Spinnen oder Riesen-Pythons gewesen.

Irgendwann sei es ihr sogar gelungen, mit den Kapuzineräffchen zu kommunizieren, sie übernahm ihr Sozialverhalten, wurde Teil der Gruppe, spielte mit ihnen und begann, auch um ihre Stellung innerhalb der Hierarchie zu kämpfen. Nur einmal sei sie fast gestorben, berichtet ihre Tochter Vanessa James der "Times", die ihrer Mutter beim Schreiben des Buches half: Als sie von giftigen Beeren gegessen hatte.

Von Jägern ins Bordell verschleppt


Fünf Jahre habe sie so mit den Kapuzineräffchen gelebt, behauptet die Britin. Dann aber sei sie von Jägern nahe der kolumbianischen Großstadt Cucuta gefangen genommen und verkauft worden – an ein Bordell. Der Preis für das Kind: ein Papagei. Mit Drogen sei sie gefügig gemacht und zur Prostitution gezwungen worden.

Nachdem ihr die Flucht gelang, lebte sie auf der Straße – dieses Mal allerdings in einem Beton-Dschungel, denn Cucuta gilt als eine der gesetzlosesten Städte Südamerikas. Gewalt, Mord und Drogen gehören zum Alltag.

Chapman wurde schließlich von einer Familie aufgenommen, in der sie als Hausmädchen arbeitete. Damals soll sie zum ersten Mal Marina Luz als ihren Namen angegeben haben. Als sie mit Freunden der Familie nach Großbritannien reiste, lernte sie ihren späteren Ehemann John Chapman kennen, einen Bakteriologen, den sie im Jahr 1977 heiratete. Die beiden bekamen zwei Töchter, heute arbeitet Marina Chapman in einem Kindergarten.

"Ihre Gute-Nacht-Geschichten spielten immer im Dschungel. Wir hielten das nicht für sonderbar. Mama erzählte halt aus ihrem Leben", erzählt Vanessa James. "Wenn wir was zu essen wollten, mussten wir Lärm schlagen", sagte James. "Alle meine Schulfreunde liebten meine Mutter, weil sie so ungewöhnlich war. Sie war kindlich, in vielerlei Hinsicht."

Für eine BBC-Dokumentation reiste sie mit ihrer Mutter nach Kolumbien und Bolivien – auch um die Eltern ihrer Mutter mithilfe von Medien zu suchen.

Wolfskinder und Affenjungen


Fälle wie der von Marina Chapman gelten immer als spektakulär, doch Experten bleiben skeptisch. Der Autor P. J. Blumenthal hat für sein Buch "Kaspar Hausers Geschwister", das im Februar 2013 in einer neu überarbeiteten Ausgabe beim Deutschen Taschenbuch Verlag erscheinen wird, mehr als 120 Fälle recherchiert und mit noch lebenden "Wolfs-Kindern", die in der Wildnis auf sich allein gestellt waren, Interviews geführt.

"So eine Geschichte wie die von Marina Luz Chapman ist sicher denkbar", sagt der Experte der "Welt". "Es wäre aber der erste belegte Fall aus Südamerika, von dem ich höre."

Bisher kenne er nur die Geschichte des Jungen "Tarzanito", der im Jahr 1933 in El Salvador von Baumfällern aufgegriffen wurde. Auch er war angeblich ein Dschungelkind. Später allerdings stellte sich seine Geschichte als Schwindel seiner Adoptivfamilie heraus.

Tatsächlich gehörte der Junge zu einem Ureinwohnerstamm, der die Ausrottung durch die Spanier überlebt hatte. Er war also mitnichten unter Affen groß geworden.

Belegter Fall aus Uganda


Anders läge laut Blumenthal John Ssebunyas Fall. Der Junge aus Uganda flüchtete als etwa Dreijähriger panisch in den Dschungel. Die Gründe dafür sind unklar, einige behaupten er habe Angst vor seinem gewalttätigen Vater gehabt, andere sprechen von Kriegswirren. Erst mehrere Monate – eventuell sogar ein Jahr – später wird er wiedergefunden. "John war dem Tode nah", sagt Blumenthal über die Rückkehr des Kindes in die Zivilisation.

Der Junge war am ganzen Körper behaart – eine Folge der chronischen Unterernährung. Experten glaubten damals, er habe sich von dem ernährt, was eine Gruppe Grüner Meerkatzen von ihrer Nahrung auf den Boden fallen ließen, hauptsächlich Früchte. "Er wurde keinesfalls von den Affen versorgt oder umsorgt", sagt Blumenthal. Er sei vielmehr geduldet worden.

John, der heute 27 ist, habe Glück gehabt, nicht auf Affen getroffen zu sein, die ihn jagten und fraßen, sagt Blumenthal. "Es gibt zwei Arten von Affen: die einen vertreiben Eindringlinge, können sie sogar töten; die anderen dulden sie."

Blumenthal vermutet deshalb, dass Marina Luz Chapman sich ihre Zeit in der Wildnis auch im Nachhinein idealisiert haben könnte. Eventuell eine Folge des Traumas, das sie durch die Trennung und Entführung erlitten habe. Auch bei dem von Chapman angegebenen Zeitraum sei er skeptisch. "Jemand, der im Wald lebt, verliert sein Zeitgefühl. Es könnten also auch nur fünf Monate statt fünf Jahre gewesen sein."

Dass Chapman mit den Affen kommunizieren konnte, sei laut Blumenthal denkbar. Das habe auch John Ssebunya vermocht – allerdings nur, weil er gelernt hatte, die Affen zu imitieren.
"Die meisten dieser 'Wolfskinder’-Geschichten sind erfunden. Denken Sie nur an den Waldjungen Ray aus Berlin. Da entstammte alles aus der Fantasie." Tatsächlich fand Blumenthal in seiner Recherche nur einen von 120 Fällen bei dem ein Kind von einem Tier regelrecht versorgt worden ist – und zwar nicht von einem Affen, sondern von einem Wolf.


P.S.: Die Kommentare zu diesem Artikel auf Welt.de sind auch interessant. So wird darauf hingewiesen, daß es in Südamerika keine Riesen-Pythons gibt.

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